Der II. Weltkrieg hatte alles verändert. Die Stadt Dessau, und auch der Stammsitz des Anhaltischen Serum-Instituts (ASID), waren bei Luftangriffen im März 1945 schwer zerstört worden. Deutsche Truppen hatten die Elbebrücke bei Roßlau gesprengt und damit den kurzen Weg nach Tornau unterbrochen. Dessau war von Amerikanern besetzt, in Tornau und in Waldersee, Sitz des firmeneigenen Gestüts Luisium, hatten die russischen Besatzer das Sagen. Die Produktion des ASID, mit Ausnahme der Anlagen in Berlin, stand still. In den folgenden Wochen sollte das ASID im Kleinen ein Spiegelbild des sich schon zuvor anbahnenden Ost-West-Konflikts werden. Dessau, dies stand fest, würde künftig Teil der sowjetischen Besatzungszone sein.
Gründungsdirektor Dr. Karl Ludwig Wolters und andere Mitarbeiter verließen deshalb Dessau Richtung München, weitere ASID-Beschäftigte zog es an die Nordsee, nach Itzehoe. Den Amerikanern beziehungsweise Briten war das nur recht, da in den westlichen Besatzungszonen zunächst kein funktionstüchtiges Serumwerk mehr existierte. Für die Dessauer bedeutete die Abwanderung vieler Fachleute gen Westen eine zusätzliche Herausforderung – schließlich ging mit dem Weggang von Wissenschaftlern Know-how verloren.
Der starken Abwanderung von Wissenschaftlern zum Trotz befahl die sowjetische Militäradministration den Neustart, denn im Nachkriegsdeutschland grassierten Seuchen – Eile tat not. Innerhalb weniger Monate gelang es, die Produktion von Tierimpfstoffen und -seren provisorisch anlaufen zu lassen. Die Berliner Werke versorgten derweil die 1,8 Millionen Einwohner der Hauptstadt mit Typhusimpfstoffen. In den folgenden Jahren wurde die Produktpalette ausgeweitet, sogar eine „Bluko“, eine Blutkonservenflasche, wurde angeboten.
Parallel dazu lief nicht nur der mühsame Wiederaufbau – auch die einst konzernähnliche Werkgemeinschaft wurde völlig neu strukturiert. Die quasi als Holding fungierende Stiftung wurde aufgelöst, die Berliner Betriebsteile abgetrennt und der Stammsitz Dessau, einschließlich Tornau, Luisium und die Produktionsstätte Bernburg wurden als ASID-Seruminstitut Teil der Vereinigung „Volkseigene Betriebe Pharma“. In den Jahren nach der Gründung der DDR im Jahr 1949 wechselten mehrfach die Zuständigkeiten: vom Ministerium für Schwerindustrie über das Gesundheitsministerium und schließlich zum Landwirtschaftsministerium.
Gleichzeitig ging es auch um die Ausrichtung des „Forschungsinstituts für Impfstoffe“, wie die Einrichtung nun hieß. Denn die so genannte Kollektivierung der Landwirtschaft und ihre spätere Industrialisierung warf ganz neue veterinärmedizinische Probleme auf, um die sich Dessau kümmern sollte. Zugleich spielte das Forschungsinstitut eine zentrale Rolle in der Humanmedizin, etwa bei der Bekämpfung der Kinderlähmung.
Nach einigen Interimsbesetzungen sollte ab 1954 Prof. Hubert Möhlmann das nunmehrige „Institut für Impfstoffe“ prägen – ein Veterinärmediziner und ausgewiesener Fachmann. Unter seiner Ägide fuhr das Institut zweigleisig – es war sowohl eine Einrichtung zur Grundlagenforschung als auch ein Produktionsbetrieb. Forschung und Produktion bedeuteten einen ständigen Kampf mit der DDR-Mangelwirtschaft. Als in den 50er Jahren eine neue Rotlaufserum-Abteilung in Tornau aufgebaut wurde, musste das Baumaterial teils mit Pferdefuhrwerken herangeschafft werden. Auch der Antrieb, die Nachweismethoden für Tuberkulose zu verbessern, entsprang realsozialistischen Gegebenheiten: Weil in den Molkereien die im Rind vorkommenden Erreger nur unzureichend abgetötet wurden, sprangen sie immer häufiger auf den Menschen über.
Das Institut entwickelte immer neue Produkte – sei es gegen die nunmehr um sich greifenden Aufzucht- und Jungtierkrankheiten oder einen Hepatitis-B-Nachweis im humanmedizinischen Sektor. Mitarbeiter veröffentlichten Fachartikel; bis 1954 wurden allein zwölf Dissertationen am Institut geschrieben.
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Trotz Investitionen, neuen Gebäuden in Dessau und Tornau, neuen Anlagen – Möhlmann hielt das Institut mit 79 Produkten für überfordert, wollte Forschung und Produktion aufwendiger konzentriert wissen. Er wurde jedoch Opfer der neuen Ideologisierung der Wirtschaft und 1973 geradezu handstreichartig als Direktor abgesetzt. Seine Nachfolge wurde vor allem unter politischen Gesichtspunkten bestimmt, das Wort Forschung aus dem Institutsnamen gestrichen, die Grundlagenforschung teils ausgelagert und das Institut insgesamt wieder stärker veterinärmedizinisch ausgerichtet. Das tat in gewisser Weise auch Not, denn während zum Beispiel die Rinder-Tuberkulose ausgerottet werden konnte, plagten Salmonellen-Infektionen die riesigen Schweinebestände der DDR.
Inzwischen waren – bei 111 Produkten – die Anlagen an ihre Grenzen gelangt. 1982 wurde daher in Tornau der Grundstein für ein völlig neues Werk gelegt. Die Arbeiten daran zogen sich bis 1988 hin. Die Veränderung schlug sich in einer erneuten Umbenennung und Neustrukturierung nieder: Das Impfstoffwerk Dessau-Tornau wurde Stammbetrieb des VEB Kombinat Veterinärimpfstoffe und zählte mittlerweile 2.400 Mitarbeiter.
Gedacht war das neue Werk, um den osteuropäischen Staatenbund mit Produkten zu versorgen, aber auch als Devisenbringer – es sollte seine Produkte ins westliche Ausland exportieren. Obwohl immer neue Produkte entwickelt und eingeführt wurden, gelang dieser Spagat nur bedingt.
Man kann von einer Ironie der Geschichte sprechen: Das neue Impfstoffwerk scheiterte an der ökonomisch ausgelaugten DDR – und gleichzeitig bildete es den Grundstein für eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte nach deren Zusammenbruch. Und es sollten ausgerechnet die innerdeutsche Grenze überquerende Füchse sein, die das Impfstoffwerk und die Klocke-Gruppe zusammenbrachten.